Freigesprochene dürfen nach einem BVerfG-Urteil doch nicht noch einmal für dieselbe Tat angeklagt werden. Damit kippen die Richter die umstrittene Reform der Strafprozessordnung der Großen Koalition aus dem Jahr 2021.
Nur auf Basis neuer Beweise können freigesprochene Verdächtige nicht noch einmal für dieselbe Tat angeklagt werden. Das hat das Bundesverfassungsgericht entschieden. Geklagt hatte ein Mann, der 1981 in Niedersachsen eine Schülerin getötet haben soll und auf Basis neuer Beweise erneut angeklagt wurde. Das Wiederaufnahmeverfahren müsse beendet werden, sagte die Vorsitzende Richterin Doris König. Player: videoFrank Bräutigam, SWR, mit Details zu Entscheidung des BVerfG über Wiederaufnahme eines Strafverfahrens nach Freispruch
Gesetz von 2021 verfassungswidrig
Die Ende 2021 in Kraft getretene Reform der Strafprozessordnung sei verfassungswidrig und nichtig, entschied das höchste deutsche Gericht in Karlsruhe. Die heftig umstrittene Reform ermöglichte es, Tatverdächtigen auf Basis neuer Erkenntnisse noch einmal den Prozess zu machen. Der Bundestag hatte die Änderung der Strafprozessordnung (Paragraf 362) während der Großen Koalition von Union und SPD beschlossen.
Vorher war es nur in wenigen Fällen möglich gewesen, ein rechtskräftig abgeschlossenes Verfahren zuungunsten des Angeklagten noch einmal aufzurollen - etwa im Falle eines Geständnisses. Seit der Gesetzesreform ging das auch, wenn "neue Tatsachen oder Beweismittel" auftauchen. Die Regelung ist auf schwerste Verbrechen wie Mord, Völkermord und Kriegsverbrechen beschränkt, die nicht verjähren.
Beim Ausfertigen des Gesetzes hatte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier angeregt, es wegen verfassungsrechtlicher Zweifel "einer erneuten parlamentarischen Prüfung und Beratung zu unterziehen". Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) plädierte nach dem Regierungswechsel im Bund ebenso dafür, es noch einmal unter die Lupe zu nehmen. Sonst stünde jeder Freispruch unter Vorbehalt.
Tat an Frederike konnte nie bewiesen werden
Konkreter Anlass für die Prüfung durch das höchste deutsche Gericht ist der Mordfall Frederike von Möhlmann. Ein Mann wird verdächtigt, 1981 die 17-Jährige aus Hambühren bei Celle vergewaltigt und erstochen zu haben. Das konnte ihm damals nicht nachgewiesen werden. 1983 wurde er rechtskräftig freigesprochen. Nach einer DNA-Untersuchung könnte er aber der Täter sein. Ihm sollte der Prozess gemacht werden, doch er legte Verfassungsbeschwerde ein.
Die Karlsruher Richterinnen und Richter stoppten den Prozess am Landgericht Verden. Der Mann kam bis auf weiteres auf freien Fuß. Das Verfassungsgericht verlängerte im Sommer die Außervollzugsetzung des Haftbefehls und kassierte Auflagen. Unter anderem hatte der Mann sich zweimal wöchentlich bei der Staatsanwaltschaft melden müssen und durfte seinen Wohnort nicht ohne Erlaubnis verlassen.
Frederikes Schwester: "Ihr Tod verjährt nicht"
Bei der mündlichen Verhandlung im Mai hatte Frederikes Schwester über ihren Anwalt emotionale Worte an den Zweiten Senat gerichtet: "Ihr Tod verjährt nicht in unserer Familiengeschichte", sagte der ehemalige Bundesanwalt Wolfram Schädler im Namen seiner Mandantin, die nicht nach Karlsruhe gekommen war. Jahrelang hatte Frederikes Vater für eine Reform der Strafprozessordnung gekämpft. Unter anderem stellte er eine Petition dafür ins Internet, die rund 180.000 Menschen unterschrieben. Der Kampf sei mit dem Tod ihres Vaters nicht vorbei, ließ Frederikes Schwester vortragen. Zeit schaffe keinen Frieden, der Schmerz werde nicht weniger. Die Familie hoffe auf Ruhe.
Gericht: Urteil ist schmerzhaft
Das Bundesverfassungsgericht zeigte Verständnis dafür, dass Hinterbliebene von Opfern mit der Entscheidung gegen eine Wiederaufnahme von Strafverfahren hadern könnten. "Dem Senat ist bewusst, dass dieses Ergebnis für die Angehörigen der 1981 getöteten Schülerin und insbesondere für die Nebenklägerin des Ausgangsverfahrens schmerzhaft und gewiss nicht leicht zu akzeptieren ist", sagte die Vorsitzende König.
In dem Verfahren sei es aber nicht um den konkreten Fall gegangen, sondern um den Umgang mit dem grundlegenden rechtsstaatlichen Grundsatz, dass niemand zweimal wegen derselben Sache vor Gericht gestellt werden kann.